Der Kampf um die Datenhoheit ist noch nicht entschieden

Wie profitieren Industrieunternehmen nachhaltig von der Digitalisierung? Eine globale Studie der Managementberatung Oliver Wyman zur “Digitalen Industrie“ zeigt Erfolgspfade und Risiken auf – auch für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau. Klar wird: Die bisherige Diskussion um Industrie 4.0 greift zu kurz, weil sie auf die in Werkshallen genutzte Technologie fokussiert. Dabei liegen die entscheidenden Werthebel nicht in der Technologie, sondern in der klugen Interpretation der Daten, die entlang der Wertschöpfungskette entstehen. Damit zeichnet sich ab: Wer strategische Kontrollpunkte entlang der Datenerhebung und Auswertung etablieren kann, wird am meisten von der nächsten industriellen Revolution profitieren.

Ein immenser Innovationsschub erfasst die Fertigungswirtschaft: Die fortschreitende Digitalisierung in der Industrie, zusammengefasst unter dem Schlagwort Industrie 4.0, führt zu Effizienzsteigerungen im Produktionsprozess und zu mehr Wachstum. Wer die neuen Spielregeln der Digitalisierung beherrscht, kann bessere Entscheidungen treffen, Prozesse stärker integrieren und lukrative Geschäftsmodelle entwickeln. „Bis zu 1,4 Billionen US-Dollar an zusätzlicher, jährlicher Marge sind dank der ‚Digitalen Industrie‘ weltweit im Jahr 2030 zu heben“, sagt Thomas Kautzsch, Partner bei Oliver Wyman und Leiter des globalen Beratungsbereichs Automotive und Manufacturing Industries. Der prognostizierte Mehrwert entsteht zum einen durch Kostensenkungen, zum anderen durch profitables Wachstum.





Die Oliver Wyman-Analysen bei über 60 international
tätigen Unternehmen haben ergeben: „Die größten digitalen Werthebel liegen gar nicht wie vielfach unterstellt in der Technologie oder nur in einer Flexibilisierung der Fertigung, sondern in teilweise produktionsfernen, indirekten Bereichen wie Vertrieb, Preissetzung, Planung, Controlling oder Einkauf“, sagt Kautzsch.

Die Studie „Digitale Industrie – Der wahre Wert von Industrie 4.0“ gibt Aufschluss über die entscheidenden Stellschrauben und Konfliktfelder der nächsten Jahre: „Spannend wird vor allem die Frage, wer sich das zusätzliche Wertpotenzial einverleibt. Denn das Phänomen Industrie 4.0 verändert potenziell in hohem Maße das Machtgefüge zwischen den an der Wertschöpfung beteiligten Unternehmen“, sagt Kautzsch. Etablierte Fertigungsunternehmen haben laut Studie zwar eine gute Ausgangsposition, müssen aber schnell und strategisch klug handeln.

Gerangel um Datenhoheit

Zu den Gewinnern werden jene Marktteilnehmer zählen, die imstande sind, datengetriebene Entscheidungen zu treffen. „Das Gerangel um die Datenhoheit hat bereits begonnen, der Kampf ist aber noch keineswegs entschieden“, sagt Tobias Sitte, Co-Autor der Studie und ebenfalls Partner bei Oliver Wyman. Damit kommen auf Unternehmen etwa im Maschinen- und Anlagenbau in erster Linie strategische Fragen zu, nicht technologische.

Die technischen Treiber hinter der rasanten Transformation sind weitgehend identifiziert: Vernetzte Maschinen halten Einzug in die Produktionsstätten, hinzukommen immer umfassendere 3D-Druckverfahren, Simulationssoftware und die Möglichkeit, praktisch in Echtzeit große Datenmengen zu erheben und zu analysieren (Big Data). Doch offen sind Fragen des digitalen Leadership: Wer betreibt und optimiert in Zukunft die Anlagen zum Beispiel in einem Automobilwerk? Etwa der Lieferant der Roboter, der Automobilhersteller selbst oder aber ein Schwergewicht aus der Softwarebranche? Und wem gelingt es, die Betriebsdaten so zu analysieren, dass er konkret anwendbare Handlungsempfehlungen und Prozessoptimierungen ableiten kann? „Diese Fragen rund um das sogenannte Applikations-Know-how entpuppen sich als wahre Kernthemen von Industrie 4.0“, sagt Tobias Sitte. Sie bilden künftig auch die zentrale Grundlage der individualisierten Massenfertigung.

Gesamtlösungen aus einer Hand

Beispiel Möbelindustrie: Dank Digitalisierung kann der Kunde eines Küchenherstellers heute über ein 3D-Modell beim Händler seine Wahl treffen. Der liefert die Einbauschränke zentimetergenau. Die Basis für solche maßgeschneiderte Serienproduktion in Losgröße 1 sind Innovationen bei einem Hersteller von Holzbearbeitungsmaschinen. Diese werden über eigene Softwarelösungen so am Kunden-Front-End vorkonfiguriert, dass sie von der Bestellauslösung bis zur Logistik einen durchgängig individualisierten Fertigungsprozess ermöglichen. Vorteil für den Maschinenhersteller: Er befreit sich mit seiner Digitalstrategie aus seiner einstigen Nischenposition. Denn indem es ihm gelingt, den gesamten Wertschöpfungsprozess zu integrieren, kann er als Dienstleister für Küchenhersteller branchenweit einen Mehrwert schaffen.




Auch in anderen Branchen können die Maschinen- und Anlagenbauer ihren Anteil an der Wertschöpfung erhöhen, indem sie die Prozessintegration in die Hand nehmen. „Hier liegt eine Riesenchance für Zulieferer, ihre Kontrolle über die Wertschöpfung auszuweiten“, sagt Tobias Sitte. Je nach Branche haben die Oliver Wyman-Experten entlang der Wertschöpfungsschritte neun unterschiedliche Werthebel identifiziert – von der Steigerung der F&E-Effizienz bis zur Optimierung des Produktionsnetzwerks. „Als größter digitaler Werthebel hat sich dabei ein besseres Verständnis der konkreten Kunden-Nachfrage und eine intelligente Abschöpfung der Zahlungsbereitschaft erwiesen“, sagt Tobias Sitte. Auf weltweit 600 Mrd. US-Dollar Margenzuwachs beziffern die Experten dieses Potenzial im Jahr 2030 – und dessen Abschöpfung hat zum Beispiel in der Automobilindustrie bereits begonnen. Als zweitstärkster Effekt schlägt die Flexibilisierung der Fertigung samt individualisierter Massenfertigung mit 300 Mrd. US-Dollar Margenzuwachs zu Buche. Dieses Thema bewegt insbesondere Klein- und Miniserienfertiger mit noch eher niedrigem Automatisierungsgrad, etwa aus der Luftfahrt- oder der Bahnindustrie.

Größte Schwachstelle ist mangelnde Kreativität

Die industrielle Digitalisierung wird alle Unternehmen der Fertigungsindustrie tiefgreifend verändern. Von Führungskräften werden zunehmend datenbasierte und transparente Entscheidungsprozesse gefordert. Gut gerüstet sehen sich bisher offenbar die wenigsten Manager. Im Rahmen der Oliver Wyman-Studie gaben alle Entscheider der befragten Maschinen- und Anlagenbauer ausnahmslos an: Es fehle an „Kreativität, um über bestehende Betriebs- und Geschäftsmodelle hinauszudenken“. 86 Prozent vermissten in ihren Unternehmen zudem „interne Software- und Datenkompetenzen“ und noch 84 Prozent räumten selbstkritisch ein, es fehle an „Know-how bei der Analyse großer Datenmengen“ und der Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen.

Oliver Wyman-Experte Tobias Sitte unterstreicht den Handlungsbedarf, die digitale Transformation aktiv anzugehen: „Alle Fertigungsunternehmen sind gut beraten, jetzt ihre Aktivitäten zu orchestrieren und den vielen Einzelprojekten einen Rahmen und eine Richtung zu geben.“ Denn klar ist auch: Die Chancen von Industrie 4.0 werden neue Spieler auf den Plan rufen.

Steht nun ein Siegeszug der Onlinegiganten auch im Industrieumfeld bevor? Thomas Kautzsch hält dieses Szenario für unwahrscheinlich: „Ähnlich wie es Microsoft in den 2000er-Jahren nicht gelang, sich beim Thema ‚Offene Automatisierung‘ zu positionieren, werden es auch Google oder Amazon in der nächsten Dekade nicht schaffen, die ‚Digitale Industrie‘ im B2B-Umfeld zu erobern“, ist er überzeugt. Den etablierten Industrieprofis kommt zugute, dass ihre Anwendungen meist zu speziell sind. Ein Massenmarkt, auf den es die endkundenbezogenen Onlinegiganten in der Regel absehen, ist in den vorgelagerten Feldern noch nicht zu finden.

Über die Studie

Für die Studie „Digitale Industrie – Der wahre Wert von Industrie 4.0“ haben die Experten von Oliver Wyman mehr als 50 Unternehmen der Automobil-, Luftfahrt- und Bahnindustrie sowie des Maschinen- und Anlagenbaus in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Nordamerika befragt.