Der Mittelstand droht seine Zukunft zu verpassen

Ein Gastbeitrag von Hagen Rickmann, Geschäftsführer T-Systems

Was wäre passiert, wenn die mittelständischen Familienunternehmen in Deutschland im 19. Jahrhundert ihre Betriebe nicht auf eine moderne Fertigung umgestellt hätten? Richtig! Die industrielle Revolution hätte sie kurzerhand vom Markt gefegt. Denn ein Überleben ohne Industrialisierung war nicht möglich. Heute ist der deutsche Mittelstand führend in der Welt. Als „Fabrikausrüster der Welt“ hat er sich auf die Erforschung, Entwicklung und Fertigung modernster Produktionstechnologien spezialisiert. Er ist die tragende Säule unseres Wohlstands, und es wäre verheerend, wenn wir diese verlieren würden.

Diese Gefahr ist aktueller als man glaubt. Denn gerade kommt auf unsere Industrielandschaft eine ähnlich radikale Veränderung wie im 19. Jahrhundert zu. Die Rede ist von Industrie 4.0, der 4. Industrielle Revolution. Die fortschreitende Digitalisierung führt schrittweise zu dramatischen Veränderungen in allen Unternehmensbereichen. Künftig entstehen die intelligenten vernetzten Fabriken der Zukunft.

Mit Chips, Sensoren und einer durchgängigen Vernetzung sind plötzlich auch die Maschinen „always on“. Sie werden dann rund um die Uhr kommunizieren – mit den Produkten und mit den Menschen, die für sie verantwortlich sind. So entstehen riesige Datenmengen und neue Informationen. Und deren IT-basierte Verfügbarkeit erhöht die Wettbewerbsintensität enorm.

„So werden aus Wertschöpfungsketten sukzessive Wertschöpfungsnetzwerke“, stellt der Zentralverband der Deutschen Industrie fest, „und die langfristige Bindung zwischen Herstellern und Lieferanten verliert an Bedeutung“. Dieser Entwicklung kann der Maschinenbau nur mit neuen oder erweiterten Geschäftsmodellen gegensteuern. Für unsere Maschinenbauer basieren neue Geschäftsmodelle im Kern auf Software. Ihre Maschinen könnten künftig von jedem Ort der Welt mit allen Herstellern kommunizieren. Und so über die Sammlung und Auswertung von Daten wichtige Aufschlüsse geben, die der Maschinenbauer anschließend an seine Kunden zurückspielt.

Und wie bereitet sich der deutsche Mittelstand auf diese Revolution vor? Bislang leider viel zu wenig. Schlimmer noch: Fast zwei Drittel der mittelständischen Unternehmen hierzulande wissen noch gar nicht, was sich hinter dem Begriff Industrie 4.0 verbirgt. Und das, obwohl Industrie 4.0 das Leitthema der diesjährigen Industriemesse in Hannover war.

Zu einem ähnlich erschreckenden Ergebnis kommt die Deloitte-Studie „Digitalisierung im Mittelstand“: Drei Viertel der befragten mittelständischen Unternehmen geben an, dass für sie die Digitalisierung der industrielle Megatrend schlechthin ist. Ihren aktuellen Digitalisierungsgrad stufen dieselben Unternehmen jedoch bislang als „gering“ ein. Und jetzt kommt der überraschendste Teil dieser Studie: Obwohl die Betriebe wissen, dass sie bei diesem Thema enorme Handlungsdefizite haben, hat kaum ein mittelständisches Unternehmen dieses Thema auf seiner Tagesordnung gesetzt – geschweige denn hieraus explizite Veränderungsziele abgeleitet.

Es ist, als ob eine große Tsunamiwelle auf die Küste zu rollt. Und was machen die mittelständischen Unternehmen? Sie stehen am Strand und schauen neugierig dem dramatischen Schauspiel entgegen?

Doch die Situation ist nicht nur für die Unternehmen selbst gefährlich. Sie ist bedrohlich für uns alle. Der Mittelstand ist schließlich tragende Säule unserer Wirtschaft und damit auch unseres Wohlstands. 99,7 Prozent aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen in Deutschland sind mittelständische Betriebe. Sie tragen 38,3 Prozent zum Gesamtumsatz der deutschen Wirtschaft bei und schultern mit den Beiträgen ihrer Beschäftigten fast zwei Drittel (65,9 Prozent) der Leistungen, die das Sozialversicherungssystem dieses Landes Monat für Monat auszahlt.

Von der erfolgreichen Bewältigung der vierten industriellen Revolution hängt also die Zukunft der deutschen Industrie ab – nicht mehr und nicht weniger. Ohne Digitalisierung der Produkte und der Produktion verlieren die mittelständischen Industriefertiger ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Noch ist die Tsunamiwelle weit genug entfernt. Noch haben wir die Zeit, zu handeln. Deutschland gehört zu den wenigen Industrienationen, denen es gelungen ist, trotz dramatischer Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte weiterhin ein wichtiger Fertigungsstandort zu bleiben. Wir haben durchaus Chancen, dass das so bleibt. Mehr noch, wenn wir die auf uns zukommenden Veränderungen frühzeitig erkennen, können wir sogar an Wettbewerbsfähigkeit hinzugewinnen.

Es ist jedoch dringend Zeit, dass der Mittelstand dieses Thema aufnimmt und sich an die Spitze der Veränderungsbewegung setzt. Einige wenige mittelständische Betriebe haben Industrie 4.0 bereits als Chance für ihre Wettbewerbsfähigkeit erkannt. Sie arbeiten mit Hochdruck daran, sich mit neuartigen Produkten auf das vernetzte und volldigitale Zeitalter vorzubereiten. Beispiele hierfür sind der Landmaschinenhersteller Claas, der Antriebsspezialist Wittenstein AG oder der Automatisierungsspezialist Festo AG.

Jetzt müssen wir daran arbeiten, dass es noch viele mehr werden – im Interesse von uns allen.

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